 |  | Lacktablett „An der Straße nach Zittau“, um 1830 | |
Zu vielen Zeiten beherrschten Flüchtlingsbewegungen kleinen oder größeren Ausmaßes das Weltgeschehen. Gerade heute erschrecken sie durch neue ungeahnte Dimensionen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Feiern zum 300jährigen Bestehen der von Vertriebenen in Sachsen gegründeten Stadt Herrnhut besondere Aktualität. Wie sehr hier Kunst, Architektur und Religion zu einer Einheit verschmelzen, zeigt eine Ausstellung im dortigen Völkerkundemuseum.
Auf den im Jahr 1415 in Konstanz verbrannten tschechischen Reformator Jan Hus berief sich die 1457 gegründete Bewegung der „Böhmischen Brüder“. Jene urchristlichen Idealen nacheifernde Gemeinschaft musste infolge der Gegenreformation zu Anfang des 18. Jahrhunderts aus Mähren fliehen. Auf dem südlich von Löbau in der Oberlausitz gelegenen Landgut Berthelsdorf des vom Pietismus geprägten Reformers Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, selbst Spross einer aus Niederösterreich geflüchteten Adelsfamilie, durften die Glaubensflüchtlinge auf einer Anhöhe unter dem Hutberg und fürsorglich „unter dem Hut des Herrn” eine Handwerkersiedlung errichten.
Am 17. Juni 1722 wurde der erste Baum vom mährischen Zimmermann Christian David gefällt. Das dazu benutzte Beil ziert die Jubiläumsschau im Herrnhuter Völkerkundemuseum, die am Beispiel zahlreicher Grafiken, Gemälde, kunstgewerblicher Objekte und Dokumente in sieben Kapiteln neben der lokalen Geschichte auch die Besonderheiten und Entwicklung der protestantischen Freikirche der „Herrnhuter Brüdergemeine“ mit heute weltweit 1,5 Millionen Mitgliedern in 40 Ländern auf allen Kontinenten vor Augen führt. Im Mittelpunkt steht eine kolorierte Radierung Cornelius Richters mit einer Panoramaansicht des Ortes von 1822. Schon im Jahr 1729 wurden 52 Häuser gezählt, deren Architektur und Anordnung die aus Fleiß, Ordnung und Ruhe bestehende pietistische Gesellschaftsordnung spiegelt. Ihre Anhänger waren nach Alter, Geschlecht, Familienstand in „Chören“ vereint.
Eine Lackmalerei auf Blech zeigt um 1830 die „Chorhäuser“, in denen sie lebten und ihrem Handwerk nachgingen. Ihre schlichte, zurückhaltende Bauweise leitet sich vom sächsischen Barock des 18. Jahrhunderts ab. Streng symmetrische Gliederung, Mitteleingang, Zweigeschossigkeit und steile Mansarddächer zeichnen die in das geometrische Grundrisssystem einer barocken „himmlischen“ Idealstadt um einen rechteckigen zentralen Platz schachbrettartig geordneten Häuser aus. Dieses „Herrnhuter System“ ist weltweit typisch für alle neuen Siedlungen der Herrnhuter Brüder, die mit Beginn ihrer Missionstätigkeit 1732 weitere Niederlassungen gründeten. Finanzielles Standbein der aus vielen begabten Handwerkern bestehenden Gemeinschaft waren Produktion und Vertrieb handwerklicher Waren, was die Lage an der belebten Handelsroute begünstigte. So setzte das Handelshaus Abraham Dürninger & Co als global agierendes Unternehmen Erzeugnisse in aller Welt ab und importierte im Gegenzug Baumwolle, Tabak oder Bananen nach Sachsen.
Die Bauten in Herrnhut verdeutlichen die innerhalb der evangelischen Theologie herausgebildeten speziellen Formen der Spiritualität. Bestes Beispiel ist der um 1756/57 nach Plänen von Siegmund August von Gersdorf errichtete Kirchsaal am zentralen Platz. Der queroblonge Rechteckbau mit großen Rundbogenfenstern und hohem Mansarddach samt Dachreiter als Glockenträger besitzt eine betont schlichte Ausstattung, da nichts von der Zusammenkunft ablenken soll. Der helle, im Weiß der Reinheit und Freude getünchte Saal mit quer ausgerichteten verschiebbaren Bankreihen ist praktischer Versammlungsort für 600 Personen und kein geweihter Raum. In ihm finden sich weder Kanzel, noch Altar. Vor einem einfachen Kreuz an der Langseite steht der leicht erhöhte, in Grün als der Farbe des Lebens gewandete „Liturgietisch“, von dem die „Versammlungen“ geleitet werden.
An der Stelle stiller Konzentration von Einzelnen stehen der fröhliche unbefangene Ausdruck des Glaubens durch Singstunden, eine Art Liedgottesdienst, die gesellige Veranstaltungsform des „Liebesmahls“ oder die „Hauptversammlungen“ an Sonntagen. Eine große Orgel verweist auf die tragende Rolle der Musik. Nach dem Wiederaufbau des im Mai 1945 gebrandschatzten Saales zu Beginn der 1950er Jahre erfolgte kürzlich seine aufwendige historische Wiederherstellung als gute Stube der Gemeinde und gebautes Miteinander. Die bekannten „Losungen“, ein aus dem Alten Testament für jeden Tag gezogener Vers, der durch einen Text aus dem Neuen Testament und einen Liedvers ergänzt wird, sollen Gottes Wort alltäglich werden lassen und die Bibel in ihrer gesamten Tiefe vermitteln. Auch hierin weicht die Brüdergemeinschaft von den Regeln der Protestanten ab. Bezeichnend gestaltet sich auch der Gang über den Gottesacker. Da alle Menschen vor Gott gleich sind, sind Gräber ausnahmslos einheitlich mit einer großen Platte bedeckt und in der Reihenfolge des Ablebens angeordnet. Nach Männern und Frauen getrennt, bleiben sie dauerhaft bestehen.
Der heute 6.000 Einwohner große Ort ist samt Schulen, Internaten, Gästehäusern oder der Hochschule der Herrnhuter Brüder ein Denkmal von nationaler Bedeutung und ein lebendiger Ort des Glaubens, der Besucher und Mitbrüder aus aller Welt anzieht. Als berühmtestes Produkt der Herrnhuter Gemeinschaft gilt heute der „Herrnhuter Stern“. Erdacht von einem Mathematiklehrer im Internat der Brüdergemeine zum besseren Verständnis der Geometrie und zur Ausstattung der Schulzimmer wird er bis heute am ersten Adventssonntag gebastelt. Der Geschäftsmann Pieter Hendrik Verbeek entwickelte den Stern zu einem stabilen, zusammensetzbaren und damit versandfertigen Produkt, das seit 1897 im kurz zuvor errichteten Stammhaus der Herrnhuter Sterne in Handarbeit gefertigt und weltweit vertrieben wird. Heute kann man in einem modernen Neubau der Sterne-Manufaktur den Arbeitern über die Schulter schauen. Das Original besteht aus 17 viereckigen und acht dreieckigen Zacken, die in Weiß als Symbol der Reinheit und Rot als Zeichen für das Blut Christi erstrahlen. Er soll den Stern von Bethlehem versinnbildlichen. Möge er auch künftig den Frieden in die ganze Welt tragen.
Die Ausstellung „Aufbruch. Netz. Erinnerung – 300 Jahre Herrnhut“ ist bis zum 27. November zu besichtigen. Das Völkerkundemuseum hat dienstags bis sonntags von 9 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. |